Nach halber Ewigkeit kommt wieder die Nacht, an der ich zu erschöpft bin einzuschlafen und ich im hellwachen Zustand träumen muss.
Aus unendlicher Höhe falle ich.
Die Luft packt mich von hinten und reibt, drückt und reisst an meiner Haut, meinen Haaren und meinen Kleidern in allen Richtungen, als sei ich ein Hund, der von einem Kleinkind ohne jegliche Kenntnis oder Verständnis seiner eigenen Kraft gestreichelt wird. Mein Herz klopft wie ein Wahnsinniger, dass ich meinen könnte, meine Brust würde bald wie ein blutiges Feuerwerk platzen. Ich muss mich mehrmals in der Luft wenden, bis ich die ,,angenehmste‘‘ Position finde und mir dann endlich Gedanken machen kann, was überhaupt geschieht. In meinen Ohren baut sich inzwischen ein Orkan auf, der an den Fassaden meines Trommelfeldes kratzt und mich beim Denken übertönt. Ich habe das ständige Gefühl, dass mir meine Kleider im nächsten Moment vom Leib gerissen werden könnten, deswegen achte mich darauf, mich nicht seltsam zu bewegen, sodass mein T-Shirt oder meine Hose nicht in die Leere wegrutscht. Von allen Seiten werde ich bedrängt, ich bin überfordert, aber mehr passiert auch nicht. Ich gewöhne mich langsam an meiner einzigartigen Situation. Mir ist weder besonders warm noch besonders kalt, was ich komisch finde. Sollte ich nicht in Flammen aufgehen? Eigentlich schon, oder? Die bessere Frage ist, wo ich bin und was das Ganze überhaupt soll.
Ich konzentriere mich nun auf die Umgebung und erblicke verschiedene Wolken aus allen Seiten und Richtungen, allen Formen und Farben, allen Dichten und Sättigungen. Die ersten, die ich entdecke, scheinen aus einer Art schmalen Stiel zu bestehen an dessen Seiten leuchtende, zarte, ausgefranste Fäden dranhängen. Wie Farn oder Blätter bilden sie hinter einem dunkelblauen Grund ein exotisches Muster, passend für Sommerhemde auf einer tropischen Insel. Oder Ja, wie Federn sehen sie aus. Als würde der populärbasierte männliche graubärtige christliche Gott hier oben seine Entscheidungen, Urteile, Vermittlungen und Sonstiges mit seinen Federwolken auf Papierwolken schreiben. Diese werden dann in Naturphänomene oder in ,,Wunder‘‘ übersetzt. Dies tut er von seiner Thronwolke aus an seiner Arbeitstischwolke, auf dem seine Federhalterwolke, Tackerwolken, Büroklammerwolken, Kleberbandwolken, Espressowolke, Familienfotowolke und Dokumentwolken von Naturgesetzen, Konzepten, Lebewesen, anorganischen Materialien und Glaube. Vielleicht hat Gott mich mit einer Briefwolke hierher bestellt?
,,Sehr frech und unhöflich von dir, ich habe dir gar nicht zugestimmt‘‘, erkläre ich Gott ,,Und überhaupt hättest du mich wenigstens nicht im freien Fall empfangen müssen, auch wenn meine Situation in deiner Position witziger aussähe. Ich muss zugeben, dass ich es recht ironisch fände, würdest du tatsächlich mit Feder und Blatt arbeiten, da in der Gegenwart ständig kritisiert wird, wie veraltet die Bibel ist.‘‘
Ich schmunzle, da Gottes Omniszienz dies Gott schon verraten haben muss und ich nichts Neues zu deklarieren habe. Ich fahre trotzdem fort:
,,Ich mache nur Witze, auch wenn es momentan nicht das passendste ist. Ich weiss, dass du die Bibel nicht geschrieben hast. Ich weiss, dass deine Worte in der Bibel bloss Erzählungen, die von hunderten von Völkern, Familien und Generation weitergegeben worden sind. Wer du bist, spielt keine Rolle. Ich bin mein eigener Gott, denn ich bin das, wonach ich glaube. Sind nicht wir alle unser eigener Gott? Du bist kein alter graubärtiger Mann, der sich darüber aufregt, dass sonntags gearbeitet wird, Schweinefleisch verzehrt wird, zwei Männer Sex haben oder auf unschuldigen Zivilisten geschossen wird.‘‘
Aus unendlicher Höhe falle ich.
Die nächsten Wolken wirken leicht ungepflegt und unsorgfältig geformt. Kleine Flecken, die Claude Monet auf seiner enorm grosse Leinwand getupft hat, um seinem Gartengemälde oder seinem Brückengemälde mehr Dimension ausserhalb des Motivs zu geben. Es scheint mir so, also sei der Himmel das Paradis der Kunstschaffenden, als sei der Himmel die Leinwand oder das Papier und man mit Wolken atemberaubende Wolkenmalereien und Wolkengedichte schreiben kann. ,,Schau in den Himmel, falle zu Boden‘‘, heisst es in einem Kunstwerk einer Interpretation eines PIECEs von Yoko Ono. Es gibt immer einen anderen Weg, eine andere Annäherung oder Perspektive. Beispielsweise könnte man bei den Monet Wolken sogar so weit gehen und kritisieren, wie schäbig und zerfetzt sie aussehen. Unüberlegt und barbarisch. Faul und unakademisch. Womöglich sind das alte Pläne Gottes, die Gott im Nachhinein nicht mehr gefielen und Gott es dann als nachhaltig erachtet haben muss, diese in kleine Stücke zu zerreissen und im Himmel liegen zu lassen. Unglücklicherweise kann ich kein einziges Wort oder irgendeine Skizze auf diesen Zetteln erkennen.
,,Spielt keine Rolle, alles was ich wissen und entdecken will und muss, finde ich in mir‘‘, führe ich mit meinem Monolog mit Gott fort ,,Das ist die Offenbarung Gottes, nicht? Oder ist dies nur die halbe Wahrheit?‘‘
Ich überlege.
,,Finde ich auch Gott in anderen Menschen? In Tieren? Pflanzen? Gegenständen? Aktivitäten? Ideen?‘‘
Ich überlege.
,,Nein‘‘, sage ich ,,die Quelle des Glaubens kann ich nur in mir finden, was aber nicht ausschliesst, dass ich ihn durch externe Kräfte kultivieren kann. Der Glaube ist ein Teil von mir und kann für ein Individuum nicht woanders zu finden sein. Verstehst du?‘‘
Aus unendlicher Höhe falle ich.
Unter mir liegt eine weiterstreckende Wolkendecke, die man mit keiner mir bekannten irdischen Landschaft vergleichen kann. Wohin der Blick auch reicht, sieht man diese watteartige Struktur in verschiedene Naturphänomene, wie Wölbungen, die wie Stalagmiten den Höhlenboden verzieren, tausende Hügel, die aus dieser Höhe wie Pickel aussehen, tiefe Schluchten, die bis zum Erdboden reichen könnten, unbeugsame und immense Berge, dessen Gipfeln sich ausserhalb der Atmosphäre befinden müssen, unzählige Gräber, als würden Himmelsmaulwürfe hier leben und ihr Land formen, und Wiesen, auf denen Wolkenhasen hopsen könnten.
Ich bin noch nie Flugzeug geflogen, weswegen mich der Anblick von oben auf das nicht-mehr Oben sehr befremdet. Allgemein bin ich nicht weit gereist und kenne fremde Landschaften nur aus der digitalen Ansicht und meiner Vorstellungskraft. Der Anblick beruhigt mich nichtsdestotrotz, was ich mir nicht erklären kann, da ich bodenlos liege und von einer weichen Landung immer noch nicht vergewissert wurde.
Vielleicht liegt es daran, dass es mir dennoch vertraut vorkommt?
Ich überlege.
,,Der Grund wieso wir unseren Glauben durch äusserliche Einflüsse bestimmen können, könnte daran liegen, dass alles eine Reflektion eines Selbst ist. Dass wir alle sozusagen Gott sind, wir alle miteinanderverwoben sind und eine gemeinsame Struktur darstellen, verstehst du?‘‘
Ich glaube nicht.
,,Auf gewisser Weise kann ich mich mit fast allen Phänomenen und Ideen auf der Welt identifizieren, da diese alle miteinanderverbunden sind! Dieses Wolkenpanorama habe ich so noch nie gesehen und kann trotzdem mit meinen Erfahrungen und meiner Vorstellungskraft mit ihr kommunizieren.‘‘
Aus unendlicher Höhe falle ich.
Langsam erreiche ich den Wolkengrund. Am Horizont sehe ich, wie die Sonne mir scheu zuzwinkert und mich kitzeln will, jedoch weiss sie nicht, dass soweit nur zwei Menschen existieren, die mich regelmässig erfolgreich kitzeln können: Meine Mutter und der Andere. Sie versucht es trotzdem und schenkt mir etwas von ihrer Wärme auf meiner Haut.
,,Gott‘‘, sage ich mit sanfter Stimme ,,Liebst du mich?‘‘
Aus unendlicher Höhe falle ich.
,,Wenn du mir diese Frage beantworten könntest, wie würdest du dies tun? Würdest du ,,Ja‘‘ sagen? Oder ,,Sehr fest‘‘? Oder ,,Was glaubst du?‘‘? ,,Vielleicht‘‘? Würdest du mir und die Augen schauen und einfach nur lächeln? Mir langsam einen Kuss auf die Wange geben? Meine Hand halten? Meine Haare streicheln? Lachen? Mich fragen, was ich denke? Gott, was ist Liebe für dich?‘‘
Aus unendlicher Höhe falle ich.
Ich stehe, beziehungsweise falle kurz davor in die Wolkendecke einzustürzen. Sie strecken ihre angeblich weichen Arme aus und versuchen mich vergeblich mit ihren flauschigen Körpern aufzufangen. Ich durchbreche jedes Mal ihre Illusion, sie können nichts dafür.
,,Sie haben es versucht‘‘, denke ich mir.
An meiner Haut kleben noch kurz Reste ihres Fleisches und unzählige Tropfen ihres Blutes, die dann vom Luftwiderstand schmerzlos von mir entrissen werden. Mehr passiert nicht, weswegen ich die Ruhe bewahre und weiter stürzend warte.
Aus unendlicher Höhe falle ich.
Um mich herum sind nur noch Wolken. Ich befinde mich im Herzen des Wolkenkolosses. Es kommt mir so vor, als würde man wie in einem Cartoon durch ein mehrstöckiges Gebäude hindurchfliegen und durch jeden Stock, durch den man stürzt, flitzt ein weiteres schockiertes Gesicht an einem vorbei und hört nach jedem Deckenbruch einen weiteren Schrei. Mit dem Unterschied hier, dass es keine Gesichter und Schreie sind, sondern Blitze und Donner, die mich zum Schreien erzwingen. Dieses brutale Szenario, welches die Stärke der Naturgewalt demonstriert, erinnert mich an William Turner. Ich tue auf Edward Munch.
,,Verdammte Scheisse, ich habe langsam genug! Wo zur Hölle bin ich?!‘‘
Es blitz. Es donnert. Ich schreie.
,,Welche Macht steckt für meine Situation dahinter? Warum bin ich hier, verdammte Kacke!‘‘
Es blitz. Es donnert. Ich schreie. Ich weine.
,, Ich weiss nicht, ob ich schon sterben will, ich kann das nicht‘‘, murmle ich schluchzend ,,Warum hast du nicht auf meine Zustimmung gewartet, du egoistisches Stück Sch-‘‘
Es blitz. Es donnert. Ich schreie. Ich weine. Ich fluche.
,,Das kann nur ein beschissener Scherz sein! Ein dummer Traum! Ein verdammter Albtraum muss es sein!‘‘, erhoffe ich mir, aber mehr passiert nicht, weswegen ich meinen Optimismus nicht aufgebe, weine und weiter stürzend warte.
Aus unendlicher Höhe falle ich.
Wolkendurchbruch. Die Wolkenwelt verschwindet langsam und ich konnte den Sturm mit einigen grauen Haaren überleben. Es schweben noch einzelne kleinere Wolken in meiner Höhe, die pummelig und kuschelig wirken. Ich habe aber langsam genug von Wolken, vom Fallen und Nachdenken, weswegen ich einen Blick auf mein Reiseziel unterhalb von mir werfe. Ich erblicke einen blaugrünen finsteren Punkt umgeben von einem dunklen Grün. Genaueres kann ich nicht erkennen, denn ich falle mit Tränen in den Augen, jedoch kann ich die feste Behauptung aufstellen, dass ich irgendwann landen werde. Dass ich womöglich irgendwann sterben werde.
Der Punkt wächst immer grösser, bis ich den Anschein habe, dass es kein einfacher Punkt sein könnte, sondern ein See. Ab dann ist es ein See, der wächst und das Grün um ihn schrumpft langsam. Ein Wald, nehme ich an, ein Fichtenwald sogar. Mehr passiert nicht, weswegen ich gestresst die Ruhe bewahre und stürzend auf eine Antwort warte. Eine Antwort darauf, wo ich bin und wie es dazu kam, dass ich fallen muss.
,,Womit habe ich das verdient?‘‘
Mein Wille ist gelähmt. Mein Körper ist gelähmt. Ich hoffe, dass ich in den See stürze und lebe, mehr nicht.
Aus endlicher Höhe falle ich.
Zielgerade fliege ich in die Richtung des Zentrums des Sees, der tatsächlich ein See ist, als hätte man dies beabsichtigt. Wenig Zeit ist noch übrig, bis ich weiss, ob mir noch mehr Zeit übrig sein wird oder ich in einem Gewässer weit weg von jeglicher Zivilisation mein Ende finde werde. Ich überlege, ob tatsächlich gottähnliche Kräfte im Spiel sind, die mich in dieser Situation gebracht haben, denn wenn ich mich nicht irre, wäre ich schon vor der Wolkendecke qualvoll verkohlt worden. Offensichtlich ist dies nicht der Fall. Ein Wunder? Oder eine wissenschaftliche Lücke?
Je länger ich überlege, um Antworten zu finden, desto mehr Köpfe der Hydra schlage ich ab und werden mit mehr Fragen, auf die ich keine Antwort mehr finden möchte, in der Luft alleingelassen.
,,Gefällt dir das? Was willst du?‘‘, rufe ich entgegen der Wolkendecke mit der Annahme, dass mir niemand antworten wird
,,Was willst du von mir?!‘‘
,,Antworte mir‘‘, ich hole Luft ,,bitte‘‘.
Ein Tod, mit dem ich nicht gerechnet hätte.
Ich komme dem See immer näher und es gibt nichts mehr was ich tun kann. Ich habe verloren. Was auch immer das ist und wo auch immer ich bin, es fühlt sich an, als hätte ich verloren. War ich ein schlechter Mensch? Zu naiv? Zu egoistisch? Ich weiss es nicht. Ich gebe es auf. Die letzten Gedanken widme ich nicht mehr mir, sondern allen Menschen zu, die mich erreichen können.
,,Wisset, dass ich im-‘‘
…
…
…
Ich-
Was-
Wo-
Was-
Wasser-
Ich lebe noch! Das Wasser mag zwar kalt wie der Tod sein, aber ich lebe und versuche mich schnellstmöglich auf die Oberfläche zu bringen. Mein Herzschlag ist unermesslich und meine Bewegungen unberechenbar. Ich versuche vor Lebensfreude nicht zu lachen. Ich will einfach atmen, einfach leben. Schliesslich erreiche ich die Oberfläche. Ich weine, lache und komme langsam auf rationale Gedanken. Der Aufprall tat kaum weh, wieder wunderlich, und weitere Beschwerden habe ich auch nicht, ausser dass ich immer noch keinen Boden an meinen Füssen fassen durfte.
Um den See herum sind nur dunkle, stolze Fichten. Eine grösser als die andere, mehr gibt es zur Umgebung nicht zu sagen. Die zuvor glatte Oberfläche wurde von mir aufgerissen und zerstört und in den Tiefen des Sees die Ruhe gestört. Es leuchtet giftgrün unterhalb meiner Füsse, als sei am Grund ein Licht. Und es werden mehr. Ein halbes Dutzend Lichter schwimmen um mich herum und wachsen immer grösser.
,,Nein, nein, nein!‘‘
Ich schwimme in unwillkürlicher Richtung des Seerandes. Einfach aus dem Wasser. Es wird wärmer um mich herum und ich bin längst in Panik verfallen. Ohne Vorwarnung, Plätschern oder jeglichen Einfluss auf das Wasser taucht vor mir der Oberkörper einer Gestalt auf, als sei sie nicht materiell. Wie ein Geist. Der Geist wirkt menschlich, hat einen Torso mit je einem Arm an je einer Schulter, dazwischen einen Hals mit einem Kopf, verziert mit schwachen Gesichtsmerkmalen wie ein fleischiges Skelett. Auch schimmert sein Körper.
Ich schreie und schwimme in die entgegengesetzte Richtung, wo weitere Gespenster auftauchen und mir den Weg verweigern, bis ich dann umzingelt bin und an Ort und Stelle verweile. Es sind ungefähr 7 untote Augenpaare auf mich gerichtet.
,,Wer seid ihr und wo bin ich?‘‘, versuche ich wenigstens herauszufinden, bevor ich mich dann doch von der Welt verabschieden muss.
Sie reagieren nicht.
,,Braucht ihr was von mir?‘‘
Sie stürzen auf mich los und hinterlassen einen ohrenbetäubenden Schrei, der um das tausendfache schlimmer als das Dröhnen beim Fall ist. Meine Ohren können das nicht aushalten, aber ich kämpfe gegen diese Mächte an, obwohl ich deutlich in der Unterzahl bin. Ich fuchtle wild mit meinen Beinen und Armen umher, um über Wasser zu bleiben, aber sie ziehen mich immer weiter runter. Das war’s.
Ich kann… nicht mehr.
Ich werde immer langsamer…immer müder.
Mehr Hände… an meinem Körper.
Lasst…mich…los.
Keine Kraft mehr…
They take me deeper…
…and deeper…
Nein.…
…
…
…
Let me be weak
Let me sleep
And dream of sheep
Von Öl.