Ich stelle mir die Venus als einen Jungen vor.
Auf nackten Füssen bewegt er sich mit höchster Vorsicht und dennoch geschmeidig auf mich zu, als würde er auf einem von Glasscherben bedeckten Feld tanzen und jegliche Gefahrenquelle mit seinen Fusssohlen erspüren und ausweichen. Seine Umgebung nimmt er wie seine eigene Haut wahr und gibt ihr nur das sanfteste. Die Füsse flüstern innige Worte aus und sein Blick streichelt jede Oberfläche. Mit jedem Schritt schenken sich Fuss und Boden einen kurzen Kuss bis zum letzten, wo sie gemeinsam den Mut finden, ihre Zärtlichkeiten länger auszutauschen.
Ich sehe die Venus als einen Jungen vor mir.
Der Mund leicht geöffnet erkenne ich ein ungleichmässiges, symmetrisches, weisses Ornament. Der gelbe Stich der Zähne wird durch den Rahmen, welche seine rötlichen Lippen bilden, verstärkt. Seine Zunge, der rosa Eingangsteppich zu seiner Bibliothek, wagt sich nun auf die Unterlippe, wo sie wartend hin und her schleicht. Beschmückt wird dieses Bild von einsamen, zarten, blonden Härchen. Seine Nase rund, klein und verziert mit kaum erkennbaren Sommersprossen, die wie Knospen im Vorfrühling auf ihren Einsatz warten. Die Wimpern wie goldene Vorhänge, jedes Lidhärchen steht parallel zueinander und wirft einen leichten Schatten auf seine Geschlechtsteile: Die Augen. Sein Blick dringt in meinen Körper ein und zwingt mich, meine Geheimnisse zu offenbaren. Meine Haut explodiert, reisst ab, zerfällt. Ich lege meine rechte Hand auf seine Rosa gebleichte Wange und schreibe mit meinem Daumen Gedichte.
Ich spüre die Venus als einen Jungen.
Meine Zunge erfriert. Ich schlecke seinen Atem ab, damit sie sich in die warme Luft schmiegen kann. Schliesslich wird sein Atem auch zu meinem. Ich streichle mit Zeigefinger und Daumen an sein Ohrläppchen. Sie fühlen sich an wie rote Äpfel an einem goldenen Sommer. Ich putze sie, zupfe an ihnen und nehme einen Biss. Der reiche Saft fliesst aus meinem Mund, hinunter zu meinem Hals, zu meiner Brust. Die Venus fängt den Tropfen mit ihren Lippen ein, diese verfangen sich dort und flattern wild um meinem Brustbereich herum. Ich lasse sie irren und grabe mit meinen Fingern tief in seine gold-weissen Krone aus zerzaustem Laub, bis sie blutig werden.
Die Venus als einen Jungen.
Seine Marmorhaut glänzt und reflektiert, sodass ich im Spiegelbild die Schönheit in mir wiederfinde. Er summt ein Wiegenlied. Es bebet in meinen Knochen und Muskeln, bis sie in unzählige und unerkennbare Fragmente zerreissen und brechen und ich nahezu leblos auf seinen Füssen liegen. Ich bete zum letzten Mal bevor ich die Augen schliesse, während er seinen Glauben zu mir bekennt und wie ein Kokon auf meiner Haut schmilzt.
Das Lied endet.
«Wir sollten los», deklarierte Lucie.