,,Religion ist das Opium des Volkes‘‘, lautet eines der bekanntesten Zitaten des Philosophen, Ökonomen und Mitgründers des Kommunismus Karl Marx. Hinter diesem vielsagenden Worten, die wie viele Zitate aphoristisch gelesen werden, verbirgt sich viel mehr, als dass die Religion bloss eine Droge für die Massen sei. Was ist Religion? Wie steht sie zum Volk? Können Kommunismus und Religion wie das Christentum gemeinsam funktionieren und wie sähe das aus?

Im folgenden Essay wird Marx‘ Zitat kurz erläutert, anschliessend werden die Begriffe ,,Religion‘‘, ,,Christentum‘‘ und ,,Kommunismus‘‘ definiert, danach wird darüber diskutiert, ob das Christentum und Kommunismus funktionieren können, und am Schluss werden die Ergebnisse ausgewertet.

Ursprünglich war nur die Idee, die Kompatibilität von Religion und Kommunismus zu vertiefen, da jedoch Religion einen zu grossen Rahmen besitzt, muss man sich nun auf das Christentum reduzieren und einer der grössten Denker des Kommunismus wird auch missinterpretiert, weshalb zuerst jegliche Unverständnisse und Lücken aufgeklärt werden.

Das ganze Zitat lautet: ,,Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes’’ [1]. Dieses wurde in der Einleitung seiner Schrift ,,Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie’’ verfasst. In diesem Kontext erklärt Marx, dass Religion eine Art Protestfunktion beinhaltet. Sie bietet ein Idealbild der Welt an, welches ein Gegensatz der Realität ist und somit das Volk, bzw. die Arbeiter*innenschaft, anstrebt. Andererseits hat sie auch eine Trostfunktion, da sie den Menschen verspricht, dass das Leben nach dem Tod eine deutlich besseres sei. Karl Marx verbietet die Religion nicht, sondern will stattdessen, dass sie überflüssig wird, sodass sie keinen rauschartigen Effekt herbeiruft und der Mensch in der Realität glücklich sein kann. Die Religion abzuschaffen hiesse, dass das Volk sie nicht mehr braucht.

Wichtig ist zu wissen, dass Marx selbst jüdische Wurzeln und keine bestimmten Religionen angesprochen hat, weswegen wir in diesem Essay auch aus persönlichen Gründen ausschliesslich das Christentum, die grösste Weltreligion, vertiefen werden.

Was ist Religion? ,,(Meist von einer größeren Gemeinschaft angenommener) bestimmter, durch Lehre und Satzungen festgelegter Glaube und sein Bekenntnis’’ [2], lautet die offizielle aber unschlüssige Definition aus dem Duden. Religion umfasst gewisse Moralvorstellungen, Weltansichten, Wünsche und Traditionen, welche je nach Religion variieren. Religion vereinfachte die Vorstellung der Welt den Menschen durch einen Sinn und das Unerklärliche wurde mit ihm somit zum Erklärlichen. Religion füllt die Lücken des Menschen. Sie ist das Pflaster auf der Wunde des menschlichen Unwissens.

Was ist das Christentum? ,,Auf Jesus Christus, sein Leben und seine Lehre gegründete Religion’’ [3]erklärt der Duden. Das Christentum ist ein monotheistischer Glaube und zeichnet sich aus der bedingungslosen Liebe Gottes zum Menschen und allen anderen Lebewesen aus.

Was ist die Definition des Kommunismus? ,,Politische Richtung, Bewegung, die sich gegen den Kapitalismus wendet und eine zentral gelenkte Wirtschafts- und Sozialordnung verficht’’ und ,,Nach Karl Marx die auf den Sozialismus folgende Entwicklungsstufe, in der alle Produktionsmittel und Erzeugnisse in das gemeinsame Eigentum der Staatsbürger übergehen und alle Klassengegensätze überwunden sind’’ [4] lauten die laschen Definitionen dieses Ideals. Sie reichen aber für das Verständnis des Textes.

Nun ist die Fragen, ob diese menschlichen Konstrukte koexistieren können: Eine Ansammlung von Traditionen und Ideen, die an eine liebende Gottheit glauben und seit Millennien bestehen und weiterentwickelt werden, und ein System, dass dem Volk verspricht, es sei untereinander gleichgestellt und somit unhierarchisch.

Aus christlich-theologischer Sicht ist der Mensch untereinander gleichgestellt, da alle aus dem Ebenbild Gottes erschaffen wurden und von Gott geliebt werden, unabhängig von der Blutlinie, dem Reichtum oder anderen Einflüssen ausserhalb des Individuums. Nur wer Gottes Liebe und Gnade akzeptiert, findet Zugang ins Paradies, dies ist die Bedingung Gottes. Auf diesem Prinzip baut das Christentum auf und der Protestantismus hält sich fest daran. Dies ermöglicht den individuellen Protestant*innen selbst zu entscheiden, wie sie den Glauben praktizieren wollen, was dem Grundmodell des Anarchismus entspricht.

In der Praxis kommen jedoch unzählige weitere Akteure im Christentum hinzu besonders im römischen Katholizismus. Dort nimmt die Kirche eine enorme Rolle ein und aus dem Glauben werden allgemeingültige Lehren und Axiomen, den Dogmata, welche von verschiedenen Positionen, vermittelt werden. Somit haben wir das Volk, die Kirche als Organ und die Geistlichen als Vermittler*innen. Die Geistlichen selbst stehen hierarchisch untereinander, was dazu führt, dass je nach Position eine Glaubenswahrheit höher oder niedriger sei. ,,Beim Vergleich der Lehren miteinander soll man nicht vergessen, dass es eine Rangordnung oder ,Hierarchie‘ der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre gibt, je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens’’ [5], deklariert das II Vatikanische Konzil.

Die Hierarchie, wie sie im römischen Katholizismus praktiziert wird, funktioniert in einem kommunistischen oder sozialistischen System nicht, da der Glaube nicht vom Individuum allein in Rahmen der Kirche praktiziert werden kann, sondern sie wird zusätzlich von einzelnen unterschiedlich hohen Individuen vorgegeben. Ämter wie der Papst, Kardinale, Bischöfe, etc. müssen in einem kommunistischen System aufgegeben und von einer einzigen Position, der Kirche, die auch Teil des Staates sein muss, geleitet werden. Dies bedeutet nicht, dass ein kommunistischer Staat automatisch ein Kirchenstaat ist à la ,,Gottes Wort ist Gesetz’’, sondern vielmehr, dass eine Kirche zu einer Staatskirche wird und Staat und Glaube miteinander verbindet: ,,Das Gesetz ist Gottes Wort’’. So hat jeder Mensch die Wahl, ob er den Glauben praktizieren will oder nicht und sollte er sich dafür entscheiden, so wird diese von einem gleichgestellten Kollektiv vorgegeben und die Kirche wird vom Staat organisatorisch und finanziell unterstützt.

Ist die Religion in einer klassenlosen Gesellschaft noch wünschenswert? Soziale Konflikte innerhalb des Staates wie die Schere zwischen reich und arm, Diskriminierung oder Obdachlosigkeit, können aufgelöst und die Bildung und Gesundheit für alle ermöglicht werden. Doch solange der Staat nicht in einem geschlossenen System funktioniert, existieren der Bedarf anderer Länder, Andersdenkende und andere Ideologien immer noch. Die Religion ist auch eine Form der Identifizierung, Verbindung aber auch Ausgrenzung zwischen verschiedenen Gruppen, die verschiedene Werte vertritt, eigene Geschichten erfindet und Tradition auslebt. Man kann auch ohne Gott glauben. Statt einer höheren Macht in Form einer Figur, könnte der Mensch an den Menschen als Gesamtes glauben oder Gott als eine Art System betrachten, dies würde jedoch eine komplette Reformation erfordern.  Solange ,,die anderen’’ noch weiter existieren, besteht der Drang zur Ausgrenzung, da sich die Kommunist*innen nicht mit den destruktiven Kapitalist*innen auf gleicher Höhe sehen möchten.

Ein Pro-Argument für den Beibehalt der Religion innerhalb des Kommunismus ist Propaganda und wie Religion die Menschen berührt. Im Namen des Glaubens, aber vor allem aus politischen Gründen, entstanden grosse Bewegungen, sei es die Reformation im 16. Jh. in Mitteleuropa, die Auswanderung der Amischen nach Amerika oder die Islamische Revolution im Iran 1979, alle kamen aus religiösen Ideen auf.

Religion bewegt und kann als Mittel verwendet werden, international das Gedankengut des Kommunismus zu verbreiten. Jedoch nicht wie die Missionär*innen in den Kolonien, welche den Kolonialisierten den Glauben aufzwangen, sondern es könnten beispielsweise die ,,kommunistische Aspekte’’ des Christentums, wie Gottes bedingungslose Liebe, weiter vertieft und ausgeschmückt werden, sodass wenigstens die nicht-kommunistischen Christ*innen eine Anknüpfstelle finden und sich zur Idee des Kommunismus bekennen.

Wichtig ist dabei, dass man den Glauben nicht einschränkt. Obwohl sie ein Kollektiv von Werten und Lehren ist, bleibt sie ein individuelles und persönliches Phänomen und wenn diese Erfahrung angegriffen wird, so kommt man schnell zur Religionszensur und Unruhe.

So gut der Kommunismus auch funktionieren mag, so kann er dem Lauf der Natur nicht trotzen. Bei nicht-klassenspezifischen Problemen wie persönlichen Verlusten, wie Tod, Zerstörung durch Naturkatastrophen oder Trennungen, braucht der Mensch eine geistliche Begleitung, die den Menschen bei der Auseinandersetzung der Situation hilft und ihnen eine mögliche und tröstende Zukunft bietet. Auch im Kommunismus will der Mensch wissen, was mit einer geliebten Person nach dem Tod geschieht und ob sie in Sicherheit ist.

Ob die Religion in einem Staat existieren darf oder effektiv im Staat miteinbegriffen muss, sei noch dahingestellt, doch solange die Menschen den Trost und das Anstreben benötigen, so sollte man während der Verwirklichung eines Utopie Staates den Glauben nicht anrühren, denn weder ein reintheistische noch ein reinatheistischer Staat ist umsetzbar, da nur das Individuum selbst entscheiden kann, was es glauben will und was nicht.

Selbstverständlich kann der kommunistische Christentum nur funktionieren, wenn der Kommunismus es auch tut, was soweit noch nicht beobachtet werden konnte. Man schaffte bisher nicht weiter als den Realsozialismus zu realisieren, oder? Oder braucht es effektiv die Religion im Sozialismus, dass der Kommunismus überhaupt entstehen kann? Können es mehrere Glaubensrichtungen sein oder nur eine? Wenn ja, welche?

Zum Abschluss ein Zitat des britischen Geheimagenten und sowjetischen Doppelagenten Georg Blake: ,,Die Religion verspricht den Leuten den Kommunismus nach dem Tode. Weil wir im Himmel alle gleich und die Lebensumstände einfach nur traumhaft sind. Und der Kommunismus verspricht den Leuten ein traumhaftes Leben hier auf Erden. Aber daraus ist ebenfalls nichts geworden.’’ [6]



[1] Einleitung zu Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; in: Deutsch-Französische Jahrbücher 1844, S. 71f

[2] Dudenredaktion, Literaturverzeichnis, Duden, o. D. https://www.duden.de/rechtschreibung/Religion (abgerufen am 04.10.2021)

[3] Dudenredaktion, Literaturverzeichnis, Duden, o. D. https://www.duden.de/suchen/dudenonline/christentum (abgerufen am 04.10.2021)

[4] Dudenredaktion, Literaturverzeichnis, Duden, o. Dhttps://www.duden.de/suchen/dudenonline/kommunismus (abgerufen am 04.10.2021)

[5]  Gerhard Ludwig Müller: Katholische Dogmatik: für Studium und Praxis der Theologie. 6. Auflage. Herder, Freiburg i. Br. 2005

[6] Simon Kuper, 19.02.2021, Zu Besuch bei dem Mann, der England an die Russen verriet, Das Magazin S. https://www.derbund.ch/zu-besuch-beim-gluecklichen-verraeter-381971250465 (abgerufen am 04.10.2021)


Von Öl.